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Studenten in der
Kulturrevolution |
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Inhaltsverzeichnis
Einführung
1. Erziehungspolitik und Lage der Studenten vor Ausbruch der
Kulturrevolution
2. Ausbruch der
Kulturrevolution: Die Ereignisse an der Universität Beijing
2.1
Die erste Wandzeitung der Kulturrevolution
2.2
Die Arbeitsgruppen vom Juni 1966
3. Die Roten
Garden
4. Hinunter ins Dorf,
hinauf in die Berge - Die Landverschickung
5. Neue Richtlinien in der Erziehungspolitik 1968
Fazit
Literaturverzeichnis
Autorin und Copyright
Einführung
„Die Welt ist euer, wie sie
auch unser ist, doch letzten Endes ist sie eure
Welt. Ihr jungen Menschen, frisch und
aufstrebend, seid das erblühende
Leben, gleichsam die Sonne um acht oder neun Uhr
morgens. Unsere
Hoffnungen ruhen auf euch.
[...] Die Welt gehört euch, Chinas Zukunft
gehört euch.“
Mao Zedong
So vielversprechend klangen Mao Zedongs
Worte für die Jugend im November 1957
bei einer Zusammenkunft mit chinesischen
Studenten und Praktikanten in Moskau. In der Tat waren die Hoffnungen, die
Mao auf die Jugend in der VR China setzte, groß. Noch verhältnismäßig frei
von „schädlichen“ Einflüssen erhoffte sich Mao, die junge Generation
entsprechend seinem sozialistischen Menschenideal formen zu können. So sah
Mao die Erziehung nicht allein als Ausbildung für spezielle Aufgaben, für
die bestimmte fachliche Kenntnisse erworben werden müssen. Vielmehr setzte
Mao den Schwerpunkt in der Bildung der Jugend auf politische Indoktrinierung
sowie körperliche und produktive Arbeit. Das Ziel war, auf diese Weise einen
neuen „revolutionären“ Menschen zu schaffen, der den Aufbau des Sozialismus
weiter vorantreiben sollte. Diese Vorstellungen von der Erziehung der jungen
Generation konnte Mao ansatzweise 1958, in letzter Konsequenz dann aber
während der „Großen Proletarischen Kulturrevolution“ durchsetzen.
In der vorliegenden Arbeit sollen die
drastischen Veränderungen in der Bildungspolitik während der damaligen Zeit
anhand der Situation der Studenten dargestellt werden. Den Einstieg in das
Thema bildet ein kurzer Überblick über die Erziehungspolitik und Lage an den
Hochschulen vor Ausbruch der Kulturrevolution. Darauf folgt die Schilderung
der prägenden Ereignisse an der Beijing Universität zu Beginn der
Kulturrevolution und der Eskalation der Situation im Lande durch die
Aktionen der sogenannten Roten Garden. Schließlich wird auf die Bewegung der
Landverschickung sowie auf die neuen Erziehungsrichtlinien von 1968
eingegangen, bevor ein kurzes Fazit die Arbeit beendet.
1.
Erziehungspolitik und Lage der Studenten vor Ausbruch der
Kulturrevolution
Die
damaligen Widersprüche innerhalb der kommunistischen Partei Chinas (KPCh),
insbesondere zwischen der Linie Mao Zedongs und Liu Shaoqis, spiegelten sich
auch in der Erziehungspolitik wider. Nach der Unterdrückung der sogenannten
100-Blumen-Bewegung 1957, die sich an den Universitäten zu einem wahren
„Anti-Partei-Sturm“ entwickelt hatte,[2]
wurde von Mao 1958 ein neuer Weg in der Bildungspolitik eingeschlagen. Im
Mittelpunkt stand, daß die Jugendlichen dazu ausgebildet werden sollten, der
„Politik der Arbeiterklasse und der Sache des Sozialismus zu dienen“.[3]
Das hieß in der Praxis, daß nunmehr ständige Indoktrinierung und körperliche
Arbeit - die Studenten wurden auch in dieser Zeit schon aufs Land geschickt
- zum Studium dazu kamen, was bei ihnen proletarisches Denken entstehen
lassen und fördern sollte. Diese neue Erziehungspolitik hatte aber auch das
Ziel, das Niveau der Bildung auf dem Lande zu heben und Kindern
proletarischer Herkunft den Zugang zu den Universitäten zu erleichtern.
Damals hatte man ihnen versichert, daß die Reinheit ihrer Klassenherkunft in
Verbindung mit Bildung sie dafür qualifizierte, die neuen Führer Chinas zu
sein.[4]
Als gegen Ende der
fünfziger Jahre die Fraktion um Liu Shaoqi nach und nach die Oberhand in der
Politik der KPCh gewinnen konnte, verlagerte sich auch der Schwerpunkt der
Erziehung allmählich wieder auf das Fachwissen. Im August 1961 revidierte
der damalige Außenminister Chen Yi mit einer neuen Interpretation von
der Verbindung zwischen Fachstudium und Politik die Bildungsreform Mao
Zedongs von 1958. Die Studenten sollten nicht mehr so viel Zeit für Politik
und körperliche Arbeit aufwenden und sich lieber auf ihr Fachstudium
konzentrieren, um so den Stand der Wissenschaft und Kultur in China zu
heben.[5]
Die neue
Erziehungsrichtlinie von Chen Yi war aber zum Nachteil der Studenten
einfacher Herkunft. Diese hatten größtenteils die 1958 neu geschaffenen
Mittelschulen auf dem Land besucht, die nach dem Prinzip der Einheit von
Arbeit und Studium aufgebaut worden waren. Damit war ihnen wesentlich
weniger Fachwissen vermittelt worden als den Schülern in den städtischen
Ganztagsmittelschulen. Viele dieser Studenten schnitten somit in den
schwierigen Prüfungen an den Universitäten meistens schlechter ab als die
Studenten aus bürgerlichen Familien, und nicht wenige mußten aufgrund dessen
die Hochschulen verlassen.[6]
Der Mißmut dieser Studenten ist vorstellbar.
Aber nicht nur die Studenten aus den Arbeiter- und
Bauernfamilien waren mit ihrer Situation unzufrieden. Insgesamt war die Lage
an den Universitäten vor Ausbruch der Kulturrevolution geprägt von
allgemeinem Unmut der Hochschüler, die insbesondere aus einem Konflikt
zwischen der jungen und der älteren, machthabenden Generation resultierte.
Die damaligen Studenten waren alle mit der Ideologie Mao Zedongs
aufgewachsen. Diese wurde ihnen von einer älteren Generation vermittelt, die
jedoch selbst nicht nach ihr lebte. Die Macht übten Parteikader aus, die
mehr darauf bedacht waren, ihre eigenen politischen Positionen zu erhalten,
anstatt sich für ideologische Reinheit einzusetzen. Die meisten Professoren
an den Universitäten waren von bürgerlicher Herkunft und übten einen enormen
Prüfungsdruck auf die Studenten aus. Viele Jugendliche fühlten sich von der
älteren Generation bevormundet, die ihnen keinerlei individuelle Freiheit
ließ. Weitere Unzufriedenheit schürte die große Unsicherheit der Studenten
über ihre spätere Tätigkeit. Nach Abschluß des Studiums wurden die meisten
aufs Land verschickt, wo sie das in den Hochschulen Gelernte nicht anwenden
konnten und für die dortigen Arbeiten völlig überqualifiziert waren.[7]
2. Ausbruch
der Kulturrevolution: Die Ereignisse an der Universität Beijing
2.1 Die erste Wandzeitung der
Kulturrevolution
Auch an der Universität Beijing (Beida)
hatte sich das Parteikomitee der Universität unter der Leitung des
Präsidenten Lu Ping für die Vorrangigkeit des Fachstudiums eingesetzt, um so
das akademische Niveau zu heben. Auf die von Mao initiierte Kritik an dem
Historiker Wu Han und dessen Werk „Die Entlassung des Hai Rui“, die den
Beginn der „Großen Proletarischen Kulturrevolution“ markieren sollte,
antwortete die Führung der Beida im Februar 1966 mit der Abhaltung eines „Wu
Han“-Kongresses. Auf diesem Kongreß wurde eine groß angelegte Diskussion
über die historische Gestalt des Hai Rui geführt. Damit sollte die ganze
Affäre auf eine akademische Debatte beschränkt und schließlich erstickt
werden. Den Studenten wurde verboten, ihrerseits zu diesem Thema
Versammlungen abzuhalten oder ihre Meinung auf Plakaten kundzutun, was viele
von ihnen verärgerte.
Am 25. Mai 1966 war trotz offiziellen
Verbots ein großes rotes Plakat an die äußeren Wände der beliebtesten Mensa
in der Beida geklebt worden. Diese erste Wandzeitung (大字报dazibao)
der Kulturrevolution war von einer Gruppe von sieben Professoren und
Studenten der philosophischen Fakultät unterzeichnet. Die Gruppe wurde
angeführt von einer 45-jährigen Dozentin für Philosophie namens Nie Yuanzi.
Der Text klagt das gesamte Parteikomitee der Universität und speziell ihren
Vorsitzenden Lu Ping auf das schärfste an. Ihm wird darin vorgeworfen, die
Kulturrevolution zu sabotieren und eine bürgerliche Erziehungslinie zu
verfolgen.
„[...]Warum habt Ihr solche Angst vor
Wandzeitungen in großen Schriftzeichen? Warum habt Ihr Angst davor,
Tribunalversammlungen abzuhalten?
Einen Gegenangriff gegen die schwarze
Clique, die eine wilde Attacke gegen die Partei, den Sozialismus und die Mao
Zedong-Ideen inszeniert hat, zu starten, bedeutet, Klassenkampf auf Leben
und Tod [...] Versammlungen abzuhalten und Wandzeitungen in großen
Schriftzeichen anzubringen, sind die besten Formen von Massenmilitanz. Ihr
führt die Massen dahin, keine Versammlungen abzuhalten und keine großen
Wandzeitungen aufzuhängen. Ihr habt verschiedene Tabus und Regulierungen
fabriziert. Habt Ihr dadurch nicht Massenumwälzung unterdrückt, sie
verboten, ihr entgegengearbeitet? Wir werden um keinen Preis zulassen, daß
Ihr dies tut!“
Die erste Reaktion der Studenten auf die
Wandzeitung war die Verteidigung des Parteikomitees, wozu der angegriffene
Lu Ping auch die kommunistische Jugendliga organisierte. Am darauffolgenden
Morgen wandelte sich das Bild: Der Inhalt der Wandzeitung wurde
vervielfältigt und unter den Studenten verteilt. Diese begannen nun
ihrerseits, Stellungnahmen in Form von Wandzeitungen zu verfassen und
öffentlich auszuhängen. Auf diese Weise wurde eine breitflächige Diskussion
unter den Studenten entfacht. Vor allem die linksstehenden Studenten griffen
Lu Ping scharf an, und warfen ihm vor, die „Bildungsrevolution“ von 1958
bekämpft und somit die Studenten aus Arbeiter- und Bauernfamilien
diskriminiert zu haben.
Am 1.
Juni wurde völlig überraschend vom Pekinger Ortssender der Inhalt der ersten
Wandzeitung mit der Kritik an Lu Ping ausgestrahlt, was von Mao Zedong
persönlich angeordnet worden war. Am darauffolgenden Morgen veröffentlichte
auch die Volkszeitung (Renmin Ribao) eine Erklärung zu den
Ereignissen an der Beijing Universität. Dabei wurde Nie Yuanzis Dazibao
von Mao als „erste wahre marxistisch–leninistische Wandzeitung“
gelobt, und zum Exempel statuiert, wie man die Initiative in der
Kulturrevolution ergreifen müsse.
Von den
Vorgängen auf höherer Ebene wußte zu dieser Zeit jedoch fast niemand. Die
Vertreter der pragmatischen Politiklinie Liu Shaoqis im Pekinger
Parteikomitee unter der Führung des Oberbürgermeisters Peng Zhen hatten es
nicht geschafft, die Kulturrevolution auf eine rein akademische Diskussion
zu reduzieren.
Erst am 3. Juni verkündete der Pekinger Lokalsender, daß das Parteikomitee
der Stadt vollständig reorganisiert worden sei, mit der Begründung, es habe
eine „schwarze Linie“ verfolgt. Die Kulturrevolution im Sinne Maos konnte
beginnen.
2.2 Die Arbeitsgruppen
vom Juni 1966
Die Auswirkungen dieser Ereignisse
waren verheerend. Nicht nur an der Beida, sondern auch an anderen
Universitäten und Schulen im ganzen Lande begannen die Studenten und Schüler
die Kulturrevolution tatkräftig „durchzuführen“. Nachdem am 4. Juni 1966 die
Absetzung des Präsidenten der Beijing Universität verkündet worden war,
begannen die Studenten, die Mitglieder des alten Parteikomitees anhand von
Wandzeitungen und auf Versammlungen zunehmend zu kritisieren. Der ganze
Campus war bald mit Wandzeitungen, Papierfahnen und Karikaturen beklebt.
Neben den Mitgliedern des alten Parteikomitees waren vor allem die
bürgerlichen Professoren Gegenstand der Kritik der Hochschüler. Ihnen wurde
unterstellt, eine „Restauration des Kapitalismus“ herbeiführen zu wollen.
Sie mußten mit Schandmützen - hohe Papierhüte, auf denen Anklagen wie
„Verräter“, „Kapitalist“, „Hund“ etc. standen - in öffentlichen
Versammlungen auftreten und Rechenschaft über ihre angeblich
revisionistischen Tätigkeiten abgeben, wobei sie noch so manch andere
Demütigungen von Seiten ihrer Studenten erlitten. Einige Kader und
Professoren nahmen sich unter dem Druck der Kritik der Studenten das Leben.
Der Unterricht wurde vielerorts völlig lahmgelegt.[13]
Um die
abgesetzten Parteikomitees an den Universitäten und Schulen zu ersetzen und
die spontane Bewegung
der Studenten und Schüler unter Kontrolle zu bringen, entsandten Staatspräsident Liu Shaoqi
und der Generalsekretär der KPCh Deng Xiaoping ab dem 4. Juni,
Arbeitsgruppen an die Bildungseinrichtungen.[14]
Liu Shaoqi sah die Kulturrevolution als eine politische Bewegung, ähnlich
den vorherigen politischen Kampagnen. Aufgrund dessen benutzte er auch die
gleichen Methoden, um sie zu leiten. Er vertraute auf die Führungsrolle der
Provinzkomitees aller Ebenen. Waren sie funktionsunfähig, wurden sie durch
Arbeitsgruppen, die erstmals während der „Sozialistischen
Erziehungskampagne“ 1963 formiert worden waren,
ersetzt. Während Mao die Absicht hatte, die „Flammen zu schüren“, entsandte
Liu die Arbeitsgruppen, um sie zu „löschen“. Auf diese Weise leitete Liu die
Kulturrevolution genau in die entgegengesetzte Richtung von Maos Absichten.
Radikale
Studenten stellten sich jedoch bald gegen die aus ihrer Sicht die „schwarze
Bande“[17]
beschützenden Arbeitsgruppen. Die Gruppen wurden kritisiert, die Revolution
zu unterdrücken und kein Vertrauen in die Urteilsfähigkeit der Studenten zu
haben. Auch Mao, der am 16. Juli 1966 zur Demonstration seiner
wiedergewonnenen Macht bei Wuhan über den Yangzi geschwommen und daraufhin
nach neunmonatiger Abwesenheit wieder nach Peking zurückgekehrt war, um sich
persönlich um die Leitung de Kulturrevolution zu kümmern, verurteilte die
Arbeitsgruppen als revolutionshemmend und ordnete ihren sofortigen Rückzug
an. Daraufhin entschuldigte sich das Pekinger Stadtkomitee an der Beida für
die „Taten“ der Arbeitsgruppen. Den Hochschülern wurden mehr Freiheiten
gewährt, so durften sie sich nun an ihren eigenen politischen
Entscheidungsprozessen beteiligen und studentische Kulturrevolutionskomitees
organisieren. Nach Augenzeugenberichten war dies eine begeisternde Erfahrung
für die Studenten.[18]
3. Die Roten Garden
In ihrer
Tätigkeit bestärkt wurden die Studenten durch den in der Renmin Ribao
am 18. Juni 1966 veröffentlichten Beschluß des Zentralkomitees
(ZK) und des Staatsrates: Alle Universitätsaufnahmeprüfungen wurden um ein
halbes Jahr verschoben, damit „der revolutionäre Elan der linken Studenten
und Schüler nicht abkühlen werde.“[19]
Zudem sollte in Zukunft proletarische Politik und Massenlinie wieder im
Vordergrund der Bildungspolitik stehen. Der beim 10. Plenum des 8. ZK vom
1.- 12. August 1966 angenommene Sechzehn-Punkte-Beschluß über die Große
Proletarische Kulturrevolution geht unter Punkt 10 genauer auf diese neuen
Richtlinien in der Bildungspolitik ein:
„[...] Eine
äußerst wichtige Aufgabe der Großen Proletarischen Kulturrevolution ist die
Umformung des alten Erziehungssystems, der alten Unterrichtsprinzipien und
-methoden. Mit dieser großen Kulturrevolution muß in der Erscheinung, daß
unsere Schulen von bürgerlichen Intellektuellen beherrscht werden, völlig
Wandel geschaffen werden. In jeder Art Schule müssen wir die vom Genossen
Mao Zedong aufgestellte Richtlinie, daß die Erziehung der proletarischen
Politik dient und daß die Erziehung mit produktiver Arbeit verbunden ist,
restlos durchführen, damit jene, die Erziehung erhalten, imstande sind, sich
moralisch, intellektuell und körperlich zu entwickeln und zu Werktätigen mit
sozialistische Bewußtsein und Kultur zu werden. Während die Hauptaufgabe der
Schüler und Studenten das Studium ist, sollen sie auch anderes lernen. Das
heißt, sie sollen neben ihrem Studium auch industrielle und
landwirtschaftliche Arbeit sowie das Militärwesen lernen.“
Mit der Bekanntmachung dieses Beschlusses
erreichte der revolutionäre Enthusiasmus der Studenten an der Beida und den
anderen Hochschulen im Lande seinen Höhepunkt. Ab Mitte August 1966
schlossen sich viele Studenten den verschiedensten Organisationen der
vormals vor allem von Schülern dominierten sogenannten Roten Garden an.
Diese hatte Mao mobilisiert, um die Liu–Fraktion auszuschalten – mit Erfolg.
Allerdings entglitt ihm bald die Kontrolle über die rebellierenden
Jugendlichen. Sie begannen mit ihren „eisernen Besen“ alles Alte
„wegzufegen“. Tempel, christliche Kirchen, bourgeoise Luxusartikel wurden
zerstört. Hohe Parteiführer wurden in Clownsaufmachung durch die Straßen
gejagt und gezwungen, Geständnisse abzulegen. Es kam zu blutigen
Auseinandersetzungen mit der Bevölkerung und mit Arbeitermilizen; aber auch
untereinander bekämpften sich rivalisierende Rotgardistenverbände,
insbesondere aufgrund ihrer unterschiedlichen Klassenherkunft. Kennzeichnen
für die Roten Garden war jedoch nicht nur ihr Rebellengeist, sondern auch
ihre Mobilität. Millionen von Schülern und Studenten strömten nach Beijing
und fuhren durch das Land, um revolutionäre Erfahrungen auszutauschen, was
zu einer völligen Überlastung des Eisenbahnverkehrs führte. Die Jugendlichen
besuchten Fabriken und Volkskommunen, um dort die Mißstände zu beheben,
wobei sie die Produktion erheblich störten. Schließlich wurden fast alle
machthabenden Personen der Partei von ihnen attackiert, sogar auch einige
maoistische Machthaber, wie beispielsweise auch Jiang Qing, die Frau von
Mao. Die Roten Garden waren zu einem Unruhepotential geworden, das auch Mao
bald ein Dorn im Auge war. Im Februar 1967 ordnete die Parteiführung den
Studenten und Schülern an, sich bis zum 20. März 1967 wieder in ihren
Unterrichtsstätten einzufinden. Soldaten und später auch Arbeiter
wurden eingesetzt, die Jugendlichen durch Disziplinierungsmaßnahmen und
Vermittlung von Mao Zedong-Ideen zu proletarischen Intellektuellen
heranzubilden.
Ab Juli 1967 konnten die ersten
Universitäten ihren Betrieb erneut aufnehmen; allerdings ging der
revolutionäre Kampf innerhalb dieser Institutionen weiter. Es sollte noch
einige Zeit vergehen, bis wieder regulärer Unterricht stattfinden konnte.
4. Hinunter
ins Dorf, hinauf in die Berge
(上山下乡shangshan
xiaxiang)
– Die Landverschickung
Im Oktober 1967
beschlossen das ZK der KPCh, der Staatsrat sowie die Zentrale
Militärkommission, daß junge Intellektuelle zur Arbeit aufs Land geschickt
werden sollten, um dort die Revolution weiter durchzuführen und die
Produktion zu fördern. Diese Politik des „Hinuntersendens“ (下放xiafang)
wurde von vielen westlichen Beobachtern als Bestrafung für die jungen
Rebellen, insbesondere für die Rotgardisten, angesehen. Allerdings darf
nicht unerwähnt bleiben, daß es schon vor dieser Kampagne ähnliche Aktionen
gegeben hat. So wurden bereits 1958 und 1959 insgesamt 1,3 Millionen Kader
aufs Land zur Umschulung durch körperliche Arbeit geschickt. Gleichermaßen
war es bis 1964 zu einer Landverschickung von über 40 Millionen Jugendliche
aus den übervölkerten Städten gekommen.[23]
Durch die 1967 initiierte Xiafang-Bewegung wollte Mao einen neuen Typ von Intellektuellen mit einem
neuen Selbstverständnis entstehen lassen. Dieser sollte nicht weltfremd und
kein „Schreibtischheld“ sein, sondern sich als Diener des Volkes sehen. Aus
seiner Bildung sollte er nicht Ansprüche ableiten, sondern die
Verpflichtung, mehr und härter zu arbeiten als jene, die nicht die
Universität besuchen konnten.
Bis Mitte 1970 sind schätzungsweise 30 Millionen „gebildete Jugendliche“ und
auch Funktionäre aus den Städten aufs Land geschickt worden, insbesondere in dünnbesiedelte Grenzgebiete. Dieses ging allerdings nicht immer reibungslos
vor sich. Einige Studenten und Schüler sträubten sich, ihr relativ bequemes
Leben in der Stadt mit dem harten Leben auf dem Land einzutauschen. Auch
manche Bauern empfanden die zusätzlichen Esser aus den Städten, die zwar
gewandt reden, aber oft nicht richtig zupacken konnten, eher als ein Laster
und begegneten ihnen teilweise mit Feindseligkeit und Mißtrauen. Zur
Verbesserung dieser Situation bot man den Menschen auf dem Lande Geld für
die Aufnahme der städtischen Schüler und Studenten. In der Presse wurden Appelle an die Bauern
gerichtet, „die gebildeten Jugendlichen aus den Städten freudig aufzunehmen,
um sie geduldig umzuerziehen“, und gleichzeitig gingen Mahnungen an die
jungen Leute „bescheiden von den Massen zu lernen“.
Die Ansiedlung
der jungen Intellektuellen auf dem Land wurde auch als
„Zehntausend-Jahre-Plan zur Bekämpfung des Revisionismus“ bezeichnet.[26]
Allerdings verfolgten die maoistischen Machthaber neben diesem ideologischen
Aspekt auch noch andere Ziele mit der Landverschickung. Der
Bevölkerungsdruck in den Städten sollte vermindert und die unterentwickelte
Infrastruktur der Grenzgebiete verbessert werden. Ferner wollte man auf
diese Weise das geistige Niveau der Landbevölkerung heben. Die Unterschiede
zwischen geistiger und manueller Arbeit sowie zwischen Stadt und Land
sollten allmählich aufgehoben werden.[27]
5. Neue Richtlinien der Erziehungspolitik im
Juli 1968
Im Juli 1968 begann
für die Schulen und Universitäten im Land ein neuer Abschnitt.
Arbeiter-Propagandagruppen zogen in den Bildungsinstitutionen ein, um Maos
neueste Richtlinien in die Tat umzusetzen:
„[...] Zur Durchführung der
proletarischen Revolution im Erziehungswesen muß die Arbeiterklasse die
Führung innehaben, muß die Masse der Arbeiter daran beteiligt sein und – in
Zusammenarbeit mit Kämpfern aus der Volksbefreiungsarmee, mit den Aktivisten
unter den Schüler und Studenten, Lehrern und Arbeitern von Schulen, die
entschlossen sind, die proletarische Revolution im Erziehungswesen zu Ende
zu führen – die revolutionäre Dreierverbindung herbeiführen. Die
Arbeiterpropagandatrupps sollen stets die Schulen leiten. In den Dörfern
sollen stets die verläßlichsten Bundesgenossen der Arbeiterklasse, die
Bauern, die Schulen verwalten.“
Die Verwaltung der Grund-, Mittel- und
Hochschulen ging somit in die Hände der Arbeiter und Bauern über. Diese
stellten gemeinsam mit den Schülern, Studenten und Lehrern den
Unterrichtsstoff zusammen. Teils lehrten sie sogar selbst, vor allem an
ingenieur- und agrartechnischen Hochschulen. Die Schul- und Studienzeit
wurde verkürzt. Das alte System der Aufnahmeprüfungen, der Examina und der
Versetzungen wurde abgeschafft, um so eine Benachteiligung von Arbeiter- und
Bauernkindern auszuschließen. Jeder Mittelschulabsolvent mußte zunächst
einmal zwei bis drei Jahre im „Laboratorium der Gesellschaft“, also in
Dörfern, Fabriken etc. arbeiten und an den „drei großen revolutionären
Kämpfen“ (dem Klassenkampf, Produktionskampf und wissenschaftlichen
Experiment) teilnehmen. Danach wurde dann von den Arbeitskollegen
entschieden, ob der Betreffende „in politischer und ideologischer Hinsicht“
würdig ist, eine Hochschule oder Universität zu besuchen.
Dieses System der Erziehung lockerte sich
allmählich nach dem Sturz von Lin Biao im Jahre 1971, als die auf Reform
bedachten Kräfte unter der Führung Zhou Enlais wieder an Einfluß gewinnen
konnten. Aber erst nach 1976, insbesondere nach Verkündung der
reformerischen Vorstellungen im Dezember 1978, wurden die Reste des
maoistischen Erziehungssystems ganz beseitigt.
Fazit
Aus heutiger Sicht wird die „Große
Proletarische Kulturrevolution“ auch von offizieller chinesischer Seite als
„zehnjährige Katastrophe“ bezeichnet. Eine Katastrophe, die sich vor allem
auf die Studenten zu jener Zeit sowie das gesamte Erziehungswesen ausgewirkt
hat. Durch die Umsetzung seiner Vorstellungen zur Einheit von Theorie und
Praxis in der Erziehung, die das revolutionäre Bewußtsein der jungen
Generation mobilisieren sollte, brachte Mao Zedong Millionen Jugendliche um
ihre Ausbildung und berufliche Existenz. Dies hatte nicht nur verheerende
Auswirkungen auf die desillusionierten Schüler und Studenten selbst, sondern
auch auf Staat und Gesellschaft der Volksrepublik China insgesamt, da es dem
Land an Fachkräften einer ganzen Generation fehlte.
Literaturverzeichnis
Barnouin, Barbara/ Yu Changgen 1993: Ten
Years of Turbulence. The Chinese Cultural
Revolution,
London.
„北京大学七同志一张大字报揭穿一个阴谋,
三家存
黑帮分子宋硕陆平彭佩云负隅抗妄想坚守反动堡垒.
欢呼北大的一张大字报“
(Beijing Daxue qi tongzhi yi zhang dazibao jiechuan yi ge yinmou, sanjiacun
heibang fenzi Song Shuo Lu Ping Peng Peiyun fuyu kang wangxiang jianshou
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人民日报(Renmin
Ribao), 2.6. 1966.
Blumer, Giovanni 1968: Die chinesische
Kulturrevolution 1965/67, Frankfurt a.M.
Hsia, Adrian 1971: Die chinesische
Kulturrevolution, Neuwied/Berlin.
Kan, David 1971: The Impact of the
Cultural Revolution on Chinese Higher Education, Hong Kong.
Kuntze, Peter 1970: Der Osten ist rot.
Die Kulturrevolution in China, München.
Machetzki, Rüdiger 1974: Die Erziehung in
der Volksrepublik China: Einheit von Theorie und Praxis?,
Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz.
Richter, Uwe 1988: Die Kulturrevolution
an der Universität Beijing, Hamburg.
Worte des Vorsitzenden Mao Tsetung,
Peking 1972.
席宣/金萶明(Xi
Xuan/Jin Chunming) 1996:
文化大革命
-
简史
(Wenhua dageming – jianshi),
Beijing.
Worte des Vorsitzenden Mao Tsetung, Peking 1972, S. 341.
Vgl. Hsia, Adrian
1971: Die chinesische Kulturrevolution, Neuwied/Berlin, S.
54-61.
Vgl. Kan, David
1971: The Impact of the Cultural Revolution on Chinese Higher
Education, Hong Kong, S. 35.
Vgl. Machetzki,
Rüdiger 1974: Die Erziehung in der Volksrepublik China: Einheit
von Theorie und Praxis?, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz, S. 161.
Vgl. Hsia 1971, S.
70-73.
Genauere
Ausführungen dazu siehe Barnouin, Barbara/Yu Changgen 1993: Ten
Years of Rurbulence. The Chinese Cultural Revolution, London, S.
53 f.; Xi Xuan/Jin Chunming 1996: Wenhua dageming - jianshi,
Beijing, S. 71 f.
Vgl. Richter, Uwe
1988: Die Kulturrevolution an der Universität Beijing,
Hamburg, S. 21/22.
„Beijing Daxue qi
tongzhi yi zhang dazibao jiechuan yi ge yinmou, sanjiacun heibang
fenzi Song Shuo Lu Ping Peng Peiyun fuyu kang wangxiang jianshou
fandong baolei. Huanhu Beida de yi zhang dazibao“, in: Renmin
Ribao, 2.6. 1966.
Vgl. ebd; Blumer,
Giovanni 1968: Die chinesische Kulturrevolution 1965/67,
Frankfurt a.M., S. 91 f.
Für eine
detaillierte Schilderung der Ereignisse auf höherer Ebene zu Beginn
der Kulturrevolution siehe Xi/Jin1996, S. 86 f.
Vgl. Blumer 1968,
S. 101 f.
Mao hatte zu der
Entsendung dieser Arbeitsgruppen keine klare Stellungnahme
abgegeben, was Liu und Deng als Zustimmung werteten. Vgl.
Barnouin/Yu 1993, S. 75.
Ziel der
„Sozialistischen Erziehungskampagne“ war die Mobilisierung der
Bauern gegen die sogenannten „Vier Alten“ (Sitten, Gewohnheiten,
Kultur, Denken). Hinzu kam der Kampf gegen die „Rückkehr zum
Kapitalismus“ und den „bürokratischen Stil“. Mao beabsichtigte auf
diese Weise die Parteikader, die den „kapitalistischen Weg“ gingen,
zu säubern. Die „Sozialistische Erziehungskampagne“ kann als
fehlgeschlagener Vorläufer der Kulturrevolution gewertet werden.
Vgl. Barnouin/Yu 1993, S. 40 f.
Vgl. Barnouin/Yu
1993, S. 73 f.
Mit der
„schwarzen Bande“ waren der gestürzte Oberbürgermeister Peng Zhen
und seine Vertrauten gemeint.
Vgl. Blumer 1968,
S. 105 f.
Kuntze, Peter
1970: Der Osten ist rot. Die Kulturrevolution in China,
München, S. 54.
Vgl. Hsia 1971,
S. 168 f.
Vgl. Richter
1988, S. 65.
Vgl. Xi/Jin 1996,
S. 178.
Vgl. Hsia 1971,
S. 200 f.
Vgl. Richter
1988, S. 120.
7. Autorin und Copyrighthinweis
Dieser Beitrag wurde von
Birte Klemm im Rahmen eines Seminars für Sprache und Kultur
Chinas
an der
Universtität Hamburg im
SS 1999 erstellt.
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Juni 2007 |